Der Angriff am 15. Oktober 1944

Nach den zahlreichen vorangegangenen Angriffen auf Braunschweig im Verlauf des Jahres 1944 sollte dieser nun gewissermaßen der Todesstoß werden. Bereits in der Nacht zum 12. September war die Stadt Darmstadt mit einer neuen Taktik angegriffen worden. Dabei lösten die Bomben­schützen ihre Fracht mit jeweils vier bis 22 Sekunden Verzögerung aus, so dass der entstehende Bomben­teppich gleichmäßig verteilt wurde. Dieser “Todesfächer” machte Darmstadt dem Erdboden gleich (ca. 11000 Tote) und galt als Generalprobe für Braunschweig und später auch Dresden.
Am 13. Oktober gibt der Chefmeteorologe im Hauptquartier des Britischen Bomber­kommandos in High Wycombe nördlich von London die Wetter­vorhersage für das Wochenende heraus: wenig Bewölkung, die ganze Nacht gute Sicht, mäßige Winde. Air Chief Marshal Arthur Harris (“Bomber-Harris”, 1892-1984) gibt den Angriffs­befehl auf die Städte Duisburg und Braunschweig. Als Decknamen für die Ziele dienen dabei Fischnamen, die Harris Stellvertreter Air Marshal Robert Saundby (1896-1971), ein begeisterter Angler, vergeben hatte:

Harris
Saundby (links) und Harris
Städte-Codename (Auswahl)
Stadt Codename
Berlin WHITEBAIT (Breitling)
Braunschweig SKATE (Rochen)
Duisburg COD (Kabeljau)
Göttingen HALIBUT (Heilbutt)
Hamburg DACE (Weißfisch)
Hildesheim FINNOCK (Schellfisch)
Wilhelmshaven KIPPER (Bückling)
Mehr Fishcodes hier.

Am Sonnabend, dem 14. Oktober 1944, wurden im Hauptquartier der 5. Bombergruppe in Morton Hall bei Swinderby die Vorbereitungen für den Angriff abgeschlossen. Flugroute, Spritbedarf und präzise Angriffs­zeiten waren erarbeitet und festgelegt worden. Um 13:10 Uhr geht der Befehl mit den Anweisungen für die Operation über Fern­schreiber an die beteiligten Bomber­staffeln heraus (Einsatzbefehl):

GEHEIM!
Von: Hauptquartier 5. Gruppe 141310 A
An: Alle Basen und Stationen / zur Information Hauptquartier Bomberkommando

Einsatz:
220 Flugzeuge der 5. Gruppe werden das Ziel angreifen. Außerdem 1000 Flugzeuge der 1/3/4 und 6 Gruppe COD um 0129 und um 0325 Uhr.
Einsatzziel:
Zerstörung eines feindlichen Industriezentrums vollenden
Einsatztag:
Nacht 14./15. Oktober 1944
Einsatzkräfte:
53. Basis - mehr als 80 Flugzeuge, 55. Basis - mehr als 100 Flugzeuge, 49. Staffel - mehr als 18 Flugzeuge, 54. Basis - 13 Flugzeuge (106. Staffel) zusätzlich Beleuchter- und Markierer-Einheiten
Ziel:
SKATE
Flugroute:
Basis - [Sammelpunkt] Reading - Beachy Head [nahe Eastbourne] - 5013 N 0133 E [Somme-Mündung] - 5005 N 0330 E [nördlich Cambrai] - 5030 N 0720 E [Rhein zwischen Bonn und Koblenz] - 5144 N 0845 E [Paderborn] - Ziel
Rückflug:
Ziel - 5210 N 1040 E [bei Wolfenbüttel] - 5135 N 0900 E [südöstlich von Paderborn] - 5030 N 0720 E [Rhein zwischen Bonn und Koblenz] - 5000 N 0500 E [Sonse] - 5120 N 0200 E [Kanal Höhe Ramsgate] - Basis
Angriffszeit:
Angriffszeit ist voraussichtlich 0230 Uhr. Zeit über Ziel Angriffszeit+6 Minuten. Flugzeuge haben sich während der Zeit über Ziel gleichmäßig zu verteilen. Aber Flugzeuge mit längeren Verzögerungen haben in der ersten Welle anzugreifen.
Treibstoff:
1650 Gallonen [7491 Liter]
Bombenladung und Zünder:
51 Flugzeuge: 1x 2000 HC [High Capacity; Minenbombe] plus Maximum "J"-Cluster [30 lbs. Flammstrahlbombe]
Überbleibende: 1x 1000 MC/GP [Medium Capacity/General Purpose; Sprengbombe]. Aufschlagzünder. Plus Maximum 4 lbs. Brandbomben vorzugsweise in Streubehältern, sonst in Schüttkästen.
Abstand der Bombenwurfreihe ist 30 Yards.
Windows: (Staniolstreifen zur Radartäuschung)
sind entsprechend dem Befehl der 5. Gruppe abzuwerfen
Fotografieren:
Alle Flugzeuge müssen Nachtkameras und Blitzbomben tragen, die bei 60 Prozent der Höhe des Flugzeugs zünden müssen. Alle Staffeln mit Ausnahme der 106. haben für Einzelheiten 50 Prozent der Flugzeuge mit verschiedenem Filmmaterial auszurüsten. Die 106. führt zu 100 Prozent verschiedene Filme mit.
Controller (Masterbomber) und ihre Vertreter sind dem Kommandeur der 54. Basis zu nennen.
Markierungspunkt:
ist 1230 Yards 225 T vor Braunschweig
Angriff:
Das Ziel ist in Abschnitten strahlenförmig vom Markierungspunkt mit verzögerter Bombenauslösung anzugreifen. Die Zuweisung der Sektoren und das Auslösen gilt wie folgt:
  • Sektor A 345-015 von den Staffeln 463 und 467 mit 8 Sekunden Verzögerung und den Staffeln 50 und 61 mit 11 Sekunden Verzögerung in 16000 bis 17000 ft Höhe
  • Sektor B 015-042 von den Staffeln 44 und 207 mit 10 Sekunden Verzögerung und den Staffeln 49 und 106 mit 14 Sekunden Verzögerung in 17250 bis 18000 ft Höhe
  • Sektor C 042-080 von den Staffeln 630 und 227 mit 10 Sekunden Verzögerung und den Staffeln 57 und 619 mit 21 Sekunden Verzögerung in 18250 bis 19000 ft Höhe
Es wird nachdrücklich betont, daß die Staffeln ihre Flugzeuge gleichmäßig auf die ihnen zugeteilten Sektoren zur verteilen haben.
Die Staffeln, denen der Sektor C zugewiesen ist, haben die Markierungseinheiten zu unterstützen. Sie haben das Ziel zu den vom Basiskommandeur 54. Basis verlagten Zeiten zu überfliegen. Danach haben sie eine Linkskurve zu fliegen, um den ihnen zugewiesenen Zielanflug wiederzugewinnen.
Zielmarkierung:
Angriffzeit-10 Blindmarkierung. Grüne Zielmarkierer werden in die Mitte des Ziels geworfen. Sie werden um Angriffszeit-5 erneuert.
Drei Wellen von Leuchtbombenwerfern werden über das Ziel um Angriffszeit -9 -7 und -5 fliegen. Während dieser Zeit wird der Markierungspunkt mit roten Zielmarkierern markiert.
Bombardierungsinstruktionen:
Besatzungen haben beim roten Zielmarkierer so zu zielen, daß die mittlere Bombe ihres Reihenwurfs in das Zentrum des Ziels trifft.
Alternativplan:
Falls bei Angriffszeit-2 es nicht möglich war, den Markierungspunkt zu markieren, hat der Controller den Mosquitomarkierern zu befehlen, die grünen Zielmarkierer zu setzen. Die Besatzungen der Angriffsverbände werden dann direkt auf den Zielmarkierer ohne Verzögerung auslösen. Außer es wird vom Controller anders befohlen.
Bombardierungs-Winde:
XY6 Flugzeug der Beleuchterkräfte stellt den Wind für die Bombardierung fest und übermittelt ihn über Funk an dieses Hauptquartier um Angriffszeit-10. Um Angriffszeit-5 wird dieses HQ zwei Bombenwerte für die beabsichtigte Bombardierungshöhe funken, eine für die Typ-"J"-Ladung und eine für die 4-lbs-Ladung. Zusätzlich werden Windmeldungen auf der Basis der Windvorhersage vom Hauptquartier vorrangig vor dem Start herausgegeben.
Einschränkungen:
H2S Mk.II (Bordradar) darf nicht benutzt werden. Mk.-III-Benutzung ist eingeschränkt. Detaillierte Vorschriften werden folgen. Es ist absolute Funkstille einzuhalten - mit Ausnahme des Windbeobachters - während der kontrollierten Zeit.

Um 15:30 Uhr beginnt in den Operationszentralen das Briefing der Bomberbesatzungen. Wie bereits im Operationsbefehl angekündigt, darf das H2S-Bordradar nicht benutzt werden, da die Radarstrahlen zur Ortung der Bomber benutzt werden konnten und so die deutschen Nachtjäger geradezu anzogen. Den Piloten wird nochmals eingeschärft, sich nicht von Köderbränden anlenken zu lassen. Dies war nötig, da es z. B. in der Nähe von Gleidingen eine sogenannte “Großbrandfläche” gab. Diese bestand aus Rinnen, die mit brennbaren Stoffen gefüllt waren und bei einem Angriff angzündet wurden. So sollten getroffene Industriebetriebe und Flughäfen vorgetäuscht werden.
Nach Ende des Briefings werden die Startbasen der Bomber aus Geheimhaltungs­gründen hermetisch von der Außenwelt abgeschnitten: Niemand darf das Gelände mehr verlassen, die Telefone sind stillgelegt.
Unterdessen werden die Schächte der 212 Lancaster-Bomber, der 20 Lancaster-Pfadfinder und der acht Pfadfinder-Mosquitos mit der jeweils befohlenen Bombenlast beladen.
Flugplan Ausschnitt Am Abend startet der Verband planmäßig, gruppiert sich über Reading und beginnt dann den Anflug auf der festgelegten Route. Diese Kurs­festlegung umgeht den Flaksperr­gürtel des stark gesicherten Ruhrgebiets südlich. Bei Paderborn dreht der Verband in nordöstliche Richtung, überquert bald darauf Hannover und geht etwa 15 Kilometer nördlich von Braunschweig auf Südkurs. Bis dahin mussten sechs der gestarteten 232 Lancaster-Maschinen aufgrund von Problemen vorzeitig zu ihren Basen zurückkehren.
Inzwischen kreist der Windbeobachter über der Stadt und setzt pünktlich zur anberaumten Zeit den Funkspruch zum Hauptquartier nach Morton Hall ab. Dort werden nun die Abdriftwerte für die eingesetzten Bombentypen errechnet und kurz darauf über Funk an die Bomber zurück­gegeben. Die Bomben­schützen geben diese Werte in die Zielgeräte ein.
Kurz darauf werfen die ersten Lancaster-Pfadfinder Leuchtbomben ab, die die Stadt hell erleuchten. Nördlich der Innenstadt fällt die erste rote Markierungs­bombe. Über der Dominsel wird die grüne Hauptmarkierungsbombe ausgelöst. Diese stößt in 1000 Meter Höhe etwa 60 Leuchtkerzen aus, die rund 3-7 Minuten abbrennen und die berüchtigten “Christbäume” bilden. Die einzelnen Maschinen der Staffeln fliegen nun über den roten Ziel­markierer in Richtung des grünen Zielmarkierers. Die Maschinen lösen dabei die Bomben nach den vorgegebenen Verzögerungs­zeiten aus. 165,6 Tonnen Sprengbomben und 706,5 Tonnen Brandbomben fallen auf die Stadt.
Besonders die gezündeten Brandbomben erhellen bald die Straßenzüge, so dass diese auf den Zielaufklärungsfilmen der Bomber gut zu erkennen sind (Bild).
Am nächsten Tag liegt die Stadt unter einer dichten Rauch- und Qualmwolke. Ein Aufklärungs­flugzeug der Briten, das am frühen Morgen die Schäden dokumentieren soll, kann nichts erkennen. Die Verluste bei den Bombern sind sehr gering: eine Lancaster-Maschine wird bei Braunschweig von der Flak abgeschossen.
Eine Karte der betroffenen Gebiete macht die Stärke des Angriffs deutlich: Bild. Aufgrund der starken Zerstörungen in der Stadt ging man damals auf Seiten der Deutschen von einem 1000-Bomber-Angriff aus. Über das tatsächliche Ausmaß der Schäden des Angriffs gibt der Auswertungsbericht Nr. K3293 vom 4. November 1944 Auskunft.